Tomas Röding, 05.04.2023
Es ist dunkel, immerhin. Der Kopf dröhnt, als würde inmitten meines Schlafzimmers ein Bautrupp mit Presslufthammern die Wände einreißen. Das flaue Gefühl in der Magengegend ist noch präsent, aber die Übelkeit nach mehreren Entleerungen in untypischer Richtung während der vergangenen Stunden immerhin einigermaßen auszuhalten. Wie genau die zweite Hälfte der letzten Nacht verlief, erschließt sich mir gerade nicht, aber immerhin liege ich ganz offenbar in meinem Bett, in meinem Schlafzimmer, in meiner Wohnung. Da gab es auch schon deutlich üblere Plätze zum Erwachen an einem Sonntagmorgen. Sonntag. Morgen. Die Gedanken kreisen noch in eher variabel-elliptischen Bahnen. Irgendwas war Sonntag. Die Dunkelheit im Raum suggeriert eine Uhrzeit weit vor Sonnenaufgang. Die Investition in komplett verdunkelnde Vorhänge macht sich nicht zum ersten Mal bezahlt. Das eine Auge, das nicht samt rechter Gesichtshälfte im Kissen vergraben ist, könnte sich versuchen zu öffnen und einen Blick auf die tatsächliche Uhrzeit freigeben. Könnte. Die Gedanken sind noch immer zu elliptisch und motorische Befehle, selbst die an das linke Augenlid, brauchen noch etwas Zeit zur Vorbereitung. Die schemenhafte Erinnerung an diverse bunt gefärbte und hübsch angerichtete Cocktails in der ersten Hälfte der vergangenen Nacht sowie die Kombination aus Presslufthammerkopfschmerzen, dezenter Übelkeit und trotzdem eigenständigen Erwachen ohne externe Einflüssen lassen meine Synapsen schlussfolgern, dass es wohl eher nach als vor dem Mittag sein dürfte. Sonntag. Vor Mittag. Oha! Die ersten Synapsen mit Befähigung zu klarem Denken erinnern mich unsanft an den für Sonntagvormittag geplanten Sonntagsbrunch mit den Ex-Schwiegereltern in spe. Verdammt.
Das linke Auge blinzelt. Die rot leuchtende Digitalanzeige des Weckers zeigt 14:32 Uhr. Ok, fein. Hektik ist demnach ganz fehl am Platze, der Sonntagsbrunch ist unwiderruflich im Zeitbereich des Präteritums angekommen. Überhaupt, schon der Gedanke an möglicherweise anstehende Nahrungsaufnahme lässt die Übelkeit wieder erstarken. Was war das auch für eine selten-dämliche Idee von Lisa, diese Verabredung mit ihren Eltern so im Kalender stehen zu lassen und nicht abzusagen. Lisa. Ich erinnere mich an mehrere, vielleicht ein halbes Dutzend Cocktails, die ich letzte Nacht mit "Auf Lisa!" zu leeren begann. Vor zwei Wochen gab sie mir bekannt, dass sie schwanger sei und ich wohl eher nicht der Vater werden würde, den ich mir seit zweieinhalb Jahren so gedanklich ausmalte. Denn das Kind ist höchstwahrscheinlich nicht von mir, sondern ihrem Chef. Grandios.
Immerhin hatte sie die Freundlichkeit, direkt nach dieser Botschaft die gemeinsame Wohnung zu verlassen. Wie und wo sie jetzt haust, erschließt sich mir nicht. Meine Einschätzung der Ehefrau von Lisas Chef geht in die Richtung, dass sie über eine spontan ins gemeinsame Haus einziehende, schwangere Geliebte eher wenig begeistert wäre. Egal. Der Brunch mit Lisas noch unwissenden Eltern ist jetzt jedenfalls ins Wasser gefallen. Oder besser in diverse bunt gefärbte Cocktails. Richtig unglücklich bin ich darüber ganz sicher nicht.
Hach wie schön wäre es doch, wenn man einfach per Knopfdruck in eine etwas angenehmere Parallelwelt wechseln könnte. Dieser Gedanke beschäftigt mich seit einiger Zeit, verständlicherweise verstärkt auch in den vergangenen zwei Wochen. In meinen Tagträumen male ich mir aus, wie Lisa ihren schmierigen Chef abgewiesen hätte und stattdessen wie länger schon geplant von und mit mir schwanger werden würde. Wie uns ihre Schwiegereltern ein kleines Häuschen mit grünem Garten in passabler Lage spendieren würden. Und wie wir dann ein klein wenig bescheidenes Glück hegen, pflegen und genießen könnten. Hätte, wäre, wenn. Tagträume von Parallelwelten helfen leider nicht. Ich schiebe das beiseite, erinnere mich stattdessen an die letzte Sitzung mit meinem Better-Life-Coach und fokussiere mich wie vorgeschlagen auf einen rosa Elefanten.
Stefan Müller, 06.08.2023
Just in dem Moment, als ich mir mit maximaler Sonntag-Nachmittag-Kater-Energie einen rosa Elefanten möglichst bildlich vorstelle, passieren zwei Dinge gleichzeitig. Was für mich natürlich zwei Dinge zu viel sind. Erstens: Die ganze Wohnung - mindestens, womöglich gar das Haus, die Straße, der Kontinent - erfährt eine erdbebenartige Erschütterung verbunden mit einem knall-schepperndem Geräusch, das an billige Actionfilme auf billiger Audioanlage erinnert. Zweitens: Das Telefon klingelt lautstark direkt neben meinem Ohr mit einer Blechbläserfanfare, die eigens dafür konzipiert und eingerichtet wurde, um mir einen Anruf von Lisa anzukündigen. Zumindest letzteres, also das klingelnde Telefon, habe ich leider selbst verschuldet. Jeder Anfänger weiß, dass als letzte Amtshandlung vor einem gepflegten Katerkoma das Telefon stumm oder besser ganz auszuschalten ist.
Mehr oder weniger erfolgreich und doch beflügelt von einer kleinen Adrenalinspitze im Blut versuche ich mit beiden Großereignissen parallel umzugehen. Mit dem Telefon in der einen und dem Schleuderstab der absolut lichtdichten Fensterverdunkelung in der anderen Hand versuche ich gleichzeitig den Grund von Lisas Anruf zu ermitteln als auch die Ursache der Erschütterung zu finden. Auch wenn ich Lisa inzwischen viel zutraue: eine Kausalität vermute ich da nicht. Ein Blick auf die Straße und ein "Hallo?" ins Telefon bestätigen mich in dieser Annahme. Ich sehe einen maximal zerbeulten SUV, der beinahe frontal in das Erdgeschoss meines Wohnhauses gerammt ist und vernehme Schlagworte wie Brunch, Ultraschall und Reihenhaus am Telefon. Bei aller Liebe zum Sonntag - das ist mir zu viel. Mit einem knappen Stottersatz, dass ich gleich zurückrufe und erst einmal einen Notarzt brauche, beende ich das Telefonat mit Lisa und wähle den Notruf. Denn unglücklicherweise war das nicht nur ein SUV-gegen-Wohnhaus Einschlag, sondern ein SUV-gegen-Fahrrad-gegen-Wohnhaus Doppelereignis. Und eben dieser Radfahrer gibt gar kein gutes Bild ab, weshalb ich in möglichst kurzen, präzisen Worten der Rettungsleitstelle zu erklären versuche, was eben passiert ist.
Es bleiben nur wenige Sekunden, um mich ob dieser getanen Bürgerpflicht trotz beachtlichem Restalkoholpegel selbst zu beweihräuchern, bevor mich eine erneut ertönende Blechblaskapelle an das zuvor abgebrochene Telefonat mit Lisa erinnert. Lisa klingt ernsthaft besorgt und beruhigt sich erst, als ich den Unfall vor bzw. an meinem Haus schildere. Während ich noch recht wortkarg und überwiegend mit verschiedenartigen Hmm-Lauten kommuniziere, ist Lisa voll im Redeschwall. Und verwirrt mich mit jedem Satz mehr. Sie scheint überhaupt nicht sauer zu sein angesichts des von mir verpassten Brunches mit ihren Eltern, ist voller Vorfreude auf unseren gemeinsamen ersten Ultraschalltermin (unseren?) und erwähnt auch noch eine kleine Überraschung von ihren Eltern, die wohl mit einem Reihenhaus zu tun habe. Ich bin so perplex, dass ich sie explizit auf ihren Chef und das Kind anspreche. Lisa lacht und fragt, wie viele Cocktails das bei mir letzte Nacht wohl waren. Ihr schmieriger Chef sei ihr total egal - er müsse halt mal ein Jahr ohne seinen besten Kopf auskommen. Und ja, wir werden Eltern. In sieben Monaten. Wir, also sie und ich. Sie lacht weiter, meint, dass sie mir gleich eine Aspirin raussucht, sobald sie in ein paar Minuten nach Hause kommt.
Ok, die Aspirin nehme ich gern. Dem Radfahrer auf dem Bürgersteig nützt sie leider nicht mehr. Bevor ich den Vorhang wieder schließe, sehe ich, wie die Rettungskräfte ihre Arbeit einstellen, der Notarzt für den Todeszeitpunkt auf seine Armbanduhr schaut und die Gold-Silber-Folie über den Kopf des verstorbenen Radlers gezogen wird.
Ich lasse mich wieder ins Bett fallen, Gesicht nach unten. Baby, Ultraschall, Reihenhaus, Lisa und ihr Chef sowie der rosa Elefant. Ich habe Probleme die Gedanken zu sortieren und dämmere verwirrt in die nächste Phase der Ausnüchterung.
Tomas Röding 03.09.2023
Es ist noch immer Sonntag, als Lisa mich mit sanften Küssen weckt. Die nur halb zugezogene, ansonsten aber komplett lichtdichte Fensterverdunkelung lässt erahnen, dass es gegen Abend sein müsste, da ein orange-roter Schimmer von draußen ins Zimmer kriecht. Lisa ist in Kuschellaune - das merke ich schnell. Normalerweise sind das Momente puren Glücks für mich, da ich nicht umständlich herausfinden muss, in welcher Stimmung sie wohl gerade ist. Blöderweise fühle ich mich als nur halb-ausgenüchterte Schnapps- bzw. Cocktailleiche nur mäßig wohl in meiner Haut und entschwinde als erstes ins Bad. Zurück im Schlafzimmer merke ich sofort, dass Lisas Laune von Kuscheln nach Reden umgeschwenkt ist. Was ein Ärger! Damit wir zumindest einigermaßen gleichberechtigte persönliche Vorteile genießen können, schlage ich einen Besuch im DaVinci vor, unserer Stammkneipe an der Ecke. Dort kann ich einen extra-starken, schwarzen Kaffee bekommen und Lisa einen Cappuccino mit doppeltem Milchschaum und Schokostreuseln in Form eines Elchkopfes. Schon ihre Freude beim Anblick dieses Heißgetränks war mir seit jeher ein Besuch im DaVinci wert.
Auf dem Weg dorthin habe ich außerdem Zeit, meine Gedanken über die letzten vierundzwanzig Stunden zu sortieren. Und Lisa merkt schnell, dass mir dabei unwohl ist - verzichtet aber vorerst auf detaillierte und bohrende Fragen. Vielleicht, weil sie es noch immer nur für einen ordentlichen Kater hält. Meine persönliche Diagnose des eigenen Zustandes ist etwas drastischer und bewegt sich zwischen gespaltener Persönlichkeit, Schizophrenie und anderen mir namentlich unbekannten Störungen im Hinterstübchen. Denn: Ich war und bin mir totsicher, dass mich eine von ihrem Chef geschwängerte Lisa vor zwei Wochen verlassen hat, weshalb ich vergangene Nacht dem Frustsaufen fröhnte. Heute jedoch, nach etwas Phantasterei über das Herbeiwünschen anderer Realitäten und einem arg zerbeulten und anschließend verstorbenen Radfahrer, befinde ich mich in eben dieser besseren Realität. Alternativ zu den befürchteten Diagnosen könnte ich auch einfach nur verdammt intensiv, lange und realitätsnah geträumt haben. Alkohol kann sowas angeblich.
Das Gespräch mit Lisa verlangt mir alles ab. Schließlich bemühe ich mich angestrengt, nichts von meinen gespaltenen Erinnerungen preiszugeben. Doch einfach so fragen, ob wir uns nicht vor zwei Wochen getrennt hätten und das Kind nicht doch von ihrem Chef sei, traue ich mich nicht. Also versuche ich indirekt möglichst viel herauszubekommen. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge stelle ich fest: Lisa ist nie ausgezogen, wir haben uns nie getrennt, ich werde Papa und ja - auch das mit dem Reihenhaus ist im Bereich des Machbaren. Lisa berichtet erfreut, dass ihre Eltern da eine Gelegenheit aufgetan und direkt ergriffen hätten, uns die Option auf ein kleines Reihenhaus im Grünen zu sichern. Schließlich ist die aktuelle Wohnung zwar hübsch für zwei, doch ohne separates Kinderzimmer natürlich nicht den Ansprüchen der werdenden Eltern und Großeltern gerecht. So viel zum lachenden Auge. Genau das hatte ich mir ja gewünscht. Sehr genau so in dieser Form sogar. Das weinende Auge macht sich umso mehr Sorge um den eigenen Geisteszustand. Blöder rosa Elefant. Diese Aufgabe vom Better-Life Coach muss ich bei meiner nächsten Sitzung am Dienstag unbedingt besprechen.
Für den Moment, oder besser diesen Abend, beschließe ich, meinen Frieden mit und in dieser neuen Realität zu schließen. Die Endorphin-erfüllte Lisa ist einfach zu süß zu beobachten, wie sie sich über ihren Schoko-Elch auf dem Cappuccino erfreut, höchst vorsichtig erst dessen Geweih vernascht, dann die anderen Randbereiche des Milchschaums und ganz zum Schluss das Elchgesicht weglöffelt. Ich liebe diese Frau! In Anbetracht meiner letzten Cocktail-Party-Nacht - die es wohl auch in der aktuellen Welt gegeben hat - wäre es heute an Lisa auf ihre Kosten zu kommen, eröffnet sie mir mit breitem Grinsen. Für mich heißt das gewöhnlich, ihren ganzen Körper mit Lavendel-Orangen-Öl für mindestens fünfundvierzig Minuten massieren zu dürfen. Und dabei mit etwas Glück auch ihr Kuschelbedürfnis erneut zu wecken. Mit schelmischem Blick erinnert sie mich an den wichtigsten Leitfaden einer jeden Beziehung: Happy Wife, Happy Life!
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